Die Digitalisierung der Schulen – eine Dystopie

Die Digitalisierung erfasst immer mehr Schulen und sorgt an vielen Stellen für größere Umbrüche. Doch was davon wird bleiben? Welche Errungenschaften wollen wir beibehalten? Welche Konzepte setzen sich durch? Wie wird sich Lernen verändern? Welche Prinzipien wollen wir hochhalten, welche eher hinterfragen? Was ist wünschenswert und was nicht? All das sind Fragen, mit denen sich zahlreiche Akteure in der Bildungswelt zur Zeit auseinandersetzen. Ich bin davon überzeugt, dass Digitalisierung an Schulen gelingen kann. Was jedoch passieren kann, wenn wir die falschen Weichen stellen, zeigt das folgende Interview. Es ist rein fiktiv und wird es hoffentlich auch bleiben – es ist eine dystopische Betrachtungsweise.1

Interviewer: Herr X, Sie unterrichten seit mehr als zehn Jahren an einer Schule mitten in Deutschland. An vielen Schulen hat die Corona-Pandemie zu größeren und nachhaltigen Veränderungen geführt, insbesondere im Bereich Digitalisierung. Was hat sich an ihrer Schule nach dem Ende der Corona-Pandemie verändert?

Herr X: Die meisten Veränderungen an unserer Schule sind tatsächlich das Ergebnis der Digitalisierung, die schon während der Pandemie einsetzte. Vor Corona hatte keiner meiner Kolleg:innen ein Dienst-Laptop oder Tablet. Die Schule verfügte lediglich über ein paar Endgeräte, die für den Einsatz im Unterricht geliehen werden konnten.
Die Pandemie hat dann gezeigt, wie es um die Digitalisierung an Schulen bestellt war. Heute besitzen wir alle – Kolleg:innen und Schüler:innen – Tablets, die zum zentralen Bestandteil unseres Unterrichts geworden sind.

I: Zu welchen Veränderungen hat die Digitalisierung bei Ihnen geführt?

X: Nun, was bei uns stattgefunden hat, ist eine gewaltige Transformation. Alles, was vor der Pandemie analog geschah, ist 1:1 in die digitale Welt übersetzt worden: Schulbücher existieren bei uns nur noch als eBook, Die Schüler:innen führen nur noch digitale Schulhefte, unsere Tafeln sind durch modernste Whiteboards ersetzt worden, wir haben alle unsere Arbeitsblätter gescannt und ins PDF-Format überführt, Stundenpläne und Notenbücher werden nur noch digital geführt, … die Möglichkeiten wachsen von Jahr zu Jahr. Sogar die meisten Leistungsüberprüfungen finden mittlerweile digital als Multiple-Choice-Test statt. Das Beste daran: Ich muss mich nicht mehr um die Korrektur oder das Feedback an die Lernenden kümmern, alles geschieht mit den entsprechenden Voreinstellungen automatisch. Das verschafft uns Zeit, um uns beispielsweise in neue Anwendungen einzuarbeiten und mit der Entwicklung Schritt zu halten.

I: Hat sich denn auch Ihr Unterricht durch die Digitalisierung verändert?

X: Der Unterricht an sich hat sich gar nicht so sehr verändert, wir versuchen immer noch unseren Schüler:innen möglichst viel Wissen zu vermitteln. Es ist uns aber gelungen den Unterricht mit Hilfe der technischen Möglichkeiten an allen Ecken und Enden zu optimieren. Eine unserer größten Errungenschaften ist eine App, mit der wir im Unterricht in Echtzeit kontrollieren können, was unsere Schüler:innen auf ihrem Tablett arbeiten – oder auch nicht. Wer zwischendurch Videos schaut oder seinen Instagram-Account checkt statt zu arbeiten, wird sofort entlarvt und entsprechend sanktioniert. Seitdem ist es im Unterricht viel ruhiger geworden, alle arbeiten konzentriert. Aber auch unser neues Learning Management System (LMS) lässt keine Wünsche offen.

I: Was hat sich noch verbessert und welche Rolle spielt dabei Ihr neues LMS?

X: Unser LMS enthält zunächst einmal all die Standardanwendungen, die viele andere LMS mittlerweile auch bieten: Austausch von Dateien, Durchführung von Videokonferenzen, Chatfunktion, u.v.m. Was unser LMS von anderen unterscheidet, sind im Wesentlichen zwei Aspekte: Erstens, wir haben uns für das kommerzielle Angebot eines US-amerikanischen Unternehmens entschieden. Das bringt uns gewaltige Vorteile, was die Performance des Systems anbelangt. Deren Serverkapazitäten sind ausgezeichnet, Verbindungsproblem oder Ausfälle sind für uns – im Gegensatz zu anderen Schulen – kein Thema. Auch die grafische Benutzeroberfläche lässt sich ganz intuitiv bedienen. Ein großer Vorteil, was die Akzeptanz der Plattform angeht.

Zweitens, versorgt uns das LMS mit allen möglichen Performance-Daten unsere Lernenden – Stichwort „Learning Analytics“. Das System sammelt leistungsbezogenen Daten unserer Schüler:innen und und erstellt für jeden von ihnen einen eigenen Score, der seine oder ihre momentane und voraussichtliche Leistung in Punkten wiedergibt. Ich habe damit einen tagesaktuellen Überblick über den Leistungsstand meiner Klasse. Ein weiterer Vorteil: Sobald der Score eines Schülers unter ein bestimmtes Niveau sinkt, werde ich benachrichtigt und kann frühzeitig gegensteuern. In vielen Gesprächen, die ich dann führe, sind die betroffenen Schüler:innen zunächst überrascht, da sie ihren Leistungsabfall selbst noch gar nicht bemerkt haben.

I: Ist der Score eines Lernenden denn so etwas wie eine Durchschnittsnote aller Leistungsüberprüfungen?

X: Nein, der Score geht weit darüber hinaus. Außer den Noten erhebt das System viele weitere Daten, die den Score der Lernenden beeinflussen. Beispielsweise erkennt das System, ob ein:e Schüler:in regelmäßig seine / ihre Hausaufgaben erledigt – fächerübergreifend. Wer hier nicht liefert, dessen Score sinkt deutlich.

Neben solch quantitativen Daten werden aber auch qualitative Daten gesammelt. Auch hier sind die Hausaufgaben ein gutes Beispiel: Das LMS ordnet die eingereichten Arbeiten qualitativ ein, indem bestimmte Key-Phrasen und Abfolgen mittels eines Algorithmus geprüft werden. Auch Plagiate haben damit keine Chance. Wer sich konstant Mühe bei seinen Hausaufgaben gibt, wird mit einem steigenden Score belohnt. Früher sind uns solche Schüler:innen oftmals durch die Lappen gegangen, heute herrscht hier ein Stück weit mehr Leistungsgerechtigkeit.

Auch Lese-Rechtschreib-Schwächen und sogar Hochbegabungen von Schüler:innen lassen sich heute viel früher diagnostizieren. Letztendlich hilft uns der Score auch bei der Entscheidung, ob bestimmte Schüler:innen ein Schuljahr wiederholen müssen, weil die Lernlücken einfach noch zu groß sind.

I: Gab es gegen die Einführung des LMS keine Bedenken – zum Beispiel seitens der Eltern?

X: Zugegeben, die Skepsis war am Anfang bei einigen Beteiligten – auch bei einzelnen Kolleg:innen – noch spürbar. Das ist heute aber nicht mehr der Fall, dafür überwiegen die Vorteile des LMS. Sehen Sie, über das LMS werden auch Daten erfasst, welche unsere Schüler:innen ganz unabsichtlich produzieren, von uns aber von großem Wert sein können.

I: Was genau meinen Sie damit?

X: In der Praxis sieht das so aus: Das LMS wird mit Hilfe verschiedener Cookies über das Surfverhalten aller Schüler:innen im Netz auf dem Laufenden gehalten. Wir sehen uns das im Einzelfall nicht an. Wenn es aber Auffälligkeiten gibt, können wir eingreifen. So bemerkten wir beispielsweise schon relativ früh, wie eine Schülerin der neunten Klasse immer mehr Zeit auf einschlägigen Gaming-Plattformen verbrachte – auch nachts. Da haben wir natürlich reagiert und zusammen mit den Eltern nach Wegen und Lösungsmöglichkeiten gesucht. Ohne unser LMS hätten wir vielleicht nie oder zu spät vom Abgleiten der Schülerin in die Spielsucht erfahren.

Umgekehrt sehen wir aber auch, wer seine Zeit zu Hause sinnvoll nutzt: Wer bearbeitet welche Lernpfade wie lange und wie erfolgreich? Wer nutzt in welchem Umfang welche Lern-Apps? Wer vernetzt sich mit anderen Lernenden? All das kann den Score der einzelnen Schüler:innen positiv beeinflussen.

I: Gibt es an Ihrer Schule denn keine Bedenken aufgrund des Datenschutzes?

X: Wissen Sie, Datenschutz ist uns schon wichtig, aber er darf dem Lernerfolg der Schüler:innen nicht im Wege stehen. Wenn wir die Wahl haben zwischen einer absolut datenschutzkonformen Anwendung, deren Performance uns nicht überzeugt, und einer Anwendung, die sich um größtmöglichen Datenschutz bemüht, deren Leistungsfähigkeit aber alle anderen überragt, dann werden wir uns für zweitere entscheiden. Hätten wir uns in den vergangenen Jahren penibel an das gehalten, was der Datenschutz vorgibt, wären wir heute nicht da wo wir sind. Das Recht auf Bildung hat aus unserer Sicht Vorfahrt. Ich denke wir sollten in der ganzen Diskussion den Ball flach halten, es fließen eben nur Daten – nicht mehr und nicht weniger!

I: Herr X, was sind die nächsten Entwicklungsschritte an Ihrer Schule?

X: Wir wollen unser LMS um eine weitere Leistungsdatenbank ergänzen, ganz konkret geht es um die Performance unserer Kolleg:innen. Zur Zeit befinden wir uns in der Testphase mit zunächst freiwilligen Kolleg:innen. Auch hier sind wir bereits in der Lage einen Score zu ermitteln: Wer stellt die besten Arbeitsblätter zur Verfügung? Wer arbeitet wie lange? Wessen Schüler:innen performen am besten? Wer bildet sich ausreichend fort? Wer erfüllt alle essentiellen Lernziele und Bildungsstandards? Wissen Sie, Leistungsgerechtigkeit war unter Lehrer:innen lange Zeit kaum denkbar: Vom Freizeitoptimierer bis zum hoch motivierten Überflieger – alle wurden gleich bezahlt. Diese Ungerechtigkeit können wir bald hinter uns lassen.

I: Vielen Dank Herr X für die spannenden Einblicke in ihre Erfahrungen!

X: Sehr gerne!


1 Die technischen Möglichkeiten, die in dem Interview zur Sprache kommen, waren gestern schon möglich.

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