Meinen Politikunterricht habe ich lange Zeit als persönliches Spannungsfeld erlebt: Einerseits waren da die Themen des Buches und des Lehrplans, die es zu bearbeiten galt. Um es vorweg zu nehmen: All diese Themen haben ihre Relevanz. Auf der anderen Seite produziert unser gesellschaftliches Zusammenleben permanent Konflikte, Probleme und Fragestellungen, die es politisch zu bearbeiten gilt. Für mich war es schon immer jene Politik, die augenblicklich in aller Welt außerhalb des Klassenzimmers passiert, die mich besonders interessiert, die ich gerne im Unterricht thematisieren wollte.
Meine Strategie zur Lösung dieses Spannungsfeldes sah daher lange Zeit so aus, dass ich – immer wenn es passte – aktuelle Politik in meinen Unterricht integriert habe. Besondere politische Ereignisse haben hin und wieder auch mal ein oder zwei Stunden zugesprochen bekommen. Das war aber die Ausnahme, Vorfahrt genossen in aller Regel die Themen des Lehrplans. So hundertprozentig zufrieden war ich damit aber nie …
Zeitgemäßer Politikunterricht?
Doch was passiert, wenn unser gesellschaftliches Zusammenleben immer tiefer greifende Probleme und Fragestellungen in immer kürzeren Abständen produziert: Wenn populistische Strömungen damit beginnen unser politisches Selbstverständnis zu untergraben? Wenn der 45. US-Präsident ein Irrlicht ist, der den Rest der Welt an den Rand der Verzweiflung bringt? Wenn die Folgen des Klimawandels auch vor uns nicht mehr Halt machen? Sind es nicht gerade die aktuellen, tiefgreifenden Probleme und Fragestellungen, die auch die Schüler:innen am meisten interessieren? Werde ich meiner Verantwortung als Politiklehrer gerecht wenn ich all das nur am Rande thematisiere?
Mittlerweile sage ich ganz klar: Nein! Solche aktuellen Probleme und Fragestellungen, sind kein „Add On“, kein „nice to have“, sondern ein „must have“ für den Politikunterricht. Sie gehören in den Mittelpunkt gestellt, zum Leitprinzip erhoben. Wie können wir sonst erwarten, dass Schüler:innen komplexen Fragestellungen in der Welt außerhalb der Schule nicht aus dem Weg gehen, sich engagieren wollen, mitreden und mitentscheiden können und schließlich Antworten auf all die drängenden Probleme und Fragestellungen entwickeln können? Politikunterricht sollte in diesem Sinne zeitgemäß sein.
Politikunterricht offen, partizipativ und aktuell gestalten
Vor einigen Jahren entschied ich mich dann dazu genau diesen Schritt zu wagen: Vorfahrt sollten ab jetzt alle aktuellen Themen haben, welche die SchülerInnen am meisten interessierten, welche sie sich selbst aussuchen konnten.
Klar hatte ich auch Zweifel: Lässt sich so etwas überhaupt planen? Was passiert mit dem Stoff und den Zielen, die der Lehrplan vorsieht – begebe ich mich auf rechtlich unsicheres Terrain? Was ist, wenn ich das Interesse der Schüler:innen überschätzt habe, gibt es überhaupt genügend Fragen, die sie interessieren würden?
Letztendlich haben mich all die Fragen nicht davon abgehalten mein Vorhaben umzusetzen. Die erste Klasse, mit der ich diesen Versuch wagte, war eine 10. Klasse, die ich bereits ein Jahr „konventionell“ unterrichtet hatte. Mir war von Anfang an wichtig, dass ich nichts über den Kopf der Klasse hinweg entscheide. Zu Beginn des Schuljahres stellte ich der Klasse also meinen Plan vor und stellte ihn zur Diskussion und Abstimmung. Das Ergebnis viel einstimmig aus: Die Klasse hatte Lust auf das Experiment – auch unter der Voraussetzung, dass es zeitlich auf ein Schulhalbjahr befristet war und wir es darüber hinaus auch früher aufgeben würden, wenn dies die Mehrheit wünschte.
Die Planung
Die Frage, ob sich diese Art des Unterrichtens planen lässt, kann ich im Nachhinein mit einem klaren Jein beantworten: Planen lässt sich diese Art des Unterrichts in so fern, dass wir uns immer eine Woche im Voraus auf ein aktuelles politisches Thema einigten. Alle Schüler:innen konnten Themen vorschlagen, am Ende haben wir dann abgestimmt. Ich hatte also einen Vorlauf von einer Woche. Da es mir aber wichtig war, dass die Schüler:innen die gewählten Themen mit ihren eigenen Fragen erschließen konnten, begann an diesem Punkt bereits die Öffnung des Unterrichts und es endete die inhaltliche Planung.
Der Einstieg in ein neues Thema folgte dann in den meisten Fällen folgendem Muster: Nachdem das Thema feststand, recherchierte ich ein Material, dass in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Thema stand: Informierende Zeitungsartikel, Kommentare, Karikaturen,… und brachte es zur Einstiegsstunde mit. Die Relevanz des Materials zeigte sich jedoch immer erst im Verlauf der Einstiegsstunde, denn die Schüler:innen formulierten in einem ersten Schritt erst einmal Fragen an das neue Thema, die sie besonders interessierten. Inwiefern die Fragen tatsächlich geeignet oder präzise formuliert waren, klärten wir dann gemeinsam in einem zweiten Schritt. Erst dann kam mein Material zum Einsatz: Die Schüler:innen prüften, welche Fragen sich mit Hilfe des Materials bereits beantworten ließen, welche Fragen noch einer tiefer gehenden Auseinandersetzung bedurften und welche Fragen noch gar nicht geklärt waren. Je nach Material und Thema sah das Ergebnis ganz unterschiedlich aus.
Der weitere Verlauf des Unterrichts und die Auseinandersetzung mit der Thematik baute dann auf den noch (teilweise) ungeklärten Fragen der Schüler:innen auf. Jede:r war verpflichtet einen oder mehreren Fragen nachzugehen und seine Ergebnisse dann der Klasse zu präsentieren. In aller Regel arbeiteten die Schüler:innen dabei in Arbeitsgruppen, welche gleiche oder im Zusammenhang befindliche Fragen beantworteten. Nach der Präsentation der Ergebnisse blieb dann noch Zeit, um kontroverse Frage zu diskutieren. Wie lange wir uns mit einem bestimmten Thema auseinandersetzten, hing in erster Linie vom Interesse der Schüler:innen und der Komplexität des Themas ab. Ab und zu ergab sich sogar aus einem gewählten Thema das nächste, weil es in unmittelbarem Zusammenhang damit stand.
Zu fast jedem aktuellem Thema, konnten die Schüler:innen schließlich eigene Ausfertigungen zur Benotung einreichen. Dies konnten Stellungnahmen, Analysen o.ä. sein – die Palette lässt sich nahezu beliebig erweitern.
Aber der Lehrplan …
… lässt diesen Unterricht doch gar nicht zu – oder doch? Die Frage mit den Vorgaben des Lehrplans empfand ich zunächst als den schwerwiegendsten Einwand, insbesondere was die Inhalte des Faches angingen. Bei dem Erwerb zentraler Kompetenzen – Orientierungskompetenz, Handlungskompetenz, Gestaltungskompetenz und übergeordnet Demokratiekompetenz1 – hatte ich weniger Bauchschmerzen. Diese ließen sich auch unabhängig von den Inhalten aufbauen – woran sich aus meiner heutigen Sicht nichts geändert hat.
Für die Bearbeitung der vorgegebenen Inhalte baute ich mir quasi eine Umgehung: So reduzierte ich alle Basisinhalte, die der Lehrplan tatsächlich als verpflichtend ansieht, auf ein notwendiges Minimum: Die Schüler:innen bekamen Langzeithausaufgaben, die darin bestanden, entsprechende Kapitel mit den Basisinhalten zu lesen und Fragen hierzu zu beantworten. Am Ende habe ich die Inhalte mit entsprechenden (benoteten) Tests geprüft um sicherzustellen, dass alle die notwendigen Inhalte bearbeitet hatten.2 Im Vorfeld hatten die Schüler:innen immer wieder Zeit zu Beginn des Unterrichts Fragen zu den Hausaufgabe zu stellen, sodass Unklarheiten beseitigt werden konnten. In der Praxis spielte dies jedoch nur eine untergeordnete Rolle, da die Inhalte durch unser Lehrbuch recht gut und einfach verständlich aufbereitet waren.
Was sagen die Schüler:innen?
In den letzten Jahre habe ich diese Art des Unterrichtens in mehreren Klassen ausprobiert und kann mich an keine Klasse erinnern, der die Themen oder Fragen ausgegangen wären. Viele Schüler:innen interessieren sich schon früh für politische Entscheidungen und gesellschaftliche Veränderungen – und würden im Übrigen auch gerne mehr mitreden. Politikunterricht kann dieses Potential nutzen – ja, er muss es eigentlich nutzen um seinen eigenen Zielen (Schüler:innen als mündige Bürger) besser gerecht zu werden.
Alle Klassen haben schließlich mit großer Mehrheit – oftmals einstimmig – immer wieder für eine Verlängerung des „Versuchs“ gestimmt, zum konventionellen Unterricht bin ich mit keiner Klasse zurückgekehrt. Das Feedback war entsprechend positiv, insbesondere das hohe Maß an Mitbestimmung stieß bei vielen Schüler:innen auf ein positives Echo. So kommt es, dass alle bisherigen Rückmeldungen und meine eigenen Erfahrungen mich bis heute motivieren an diesem Verfahren festzuhalten.
1 Ministerium für Bildung, Wissenschaft, Weiterbildung und Kultur Rheinland-Pfalz (Hrsg.)(2016): Lehrplan für die gesellschaftswissenschaftlichen Fächer .Erdkunde, Geschichte, Sozialkunde. S.7. Abrufbar unter Bildungsserver Rheinland-Pfalz.
2 Aus heutiger Sicht finde ich diese Vorgehensweise nicht mehr ganz optimal …