„Lernrückstände“ haben Konjunktur – zumindest in zahlreichen Beiträgen und Wortmeldungen zur Frage, welche Spuren die Corona-Pandemie in den Schulen hinterlassen hat und was getan werden muss. Seien es Programme seitens der Politik1, Forderungen von Verbänden2 oder Analysen in der Presse3, der Tenor ist oftmals der gleiche: Schüler:innen haben in der Pandemie ein bestimmtes Maß an Stoff verpasst, der noch dringend vermittelt werden muss. Geschieht dies nicht, drohen den Betroffenen Defizite, die sie kaum oder gar nicht mehr aufholen können. Durch den zunehmenden Gebrauch des Begriffs und seine Verbreitung in der öffentlichen Diskussion werden „Lernrückstände“ zum Narrativ.
Bei all den guten Absichten, die hinter den Forderungen und Maßnahmen stecken, halte ich diese Entwicklung für problematisch: Der Begriff offenbart ein Verständnis von Lernen, das nicht mehr zeitgemäß ist. Außerdem entstehen durch den vermehrten Gebrauch des Begriffs erst Probleme, die viel weitreichender sind, als das Verpassen des Unterrichtsstoffs.
Was hinter dem Begriff “Lernrückstände“ steckt
Begriffe wie “Lernrückstände“ sind nur die Spitze des Eisbergs. Darunter verbirgt sich ein Verständnis von Lernen, das den Herausforderungen und Möglichkeiten in einer Kultur der Digitalität nicht gewachsen ist: „Alle gleichaltrigen Schüler haben zum gleichen Zeitpunkt beim gleichen Lehrer im gleichen Raum mit den gleichen Mitteln das gleiche Ziel gut zu erreichen“ (7G, Andreas Helmke, In: Pädagogik 2/13, S.36). Damit einher geht auch die Vorstellung, Schüler:innen seien in gewisser Weise defizitäre Wesen, die durch Wissensvermittlung möglichst vielen Herausforderungen in der „realen Welt“ gewachsen sein sollen. (Warum ich diese Sichtweise für nicht zeitgemäß halte, darüber habe ich hier gebloggt)
Folgt man dieser Logik, so ist schnell klar, dass die in der Corona-Pandemie entstandenen Lernrückstände nun möglichst schnell geschlossen werden müssen. Auch das zwei Milliarden schwere „Aktionsprogramm Aufholen nach Corona“ der Bundesregierung teilt den Begriff der „Lernrückstände“ und sieht entsprechenden Handlungsbedarf. Ziel ist es, möglichst bald zur Normalität zurückkehren – dabei ist die Normalität das eigentliche Problem.
Welche Probleme der Begriff „Lernrückstände“ und sein Gebrauch erst schaffen
Damit nicht genug. Angenommen wir unterwerfen uns alle der Strategie der möglichst schnellen Beseitigung der Lernrückstände – welche Konsequenzen sind zu erwarten? Mit Sicherheit würden wir eine Verdichtung des Unterrichts zu Gunsten des Lernstoffs erleben, alles andere wird schnell zur Nebensache: Gibt es Konflikte in der Lerngruppe – löst sie zu Hause! Der Stoff ist zu kompliziert – nehmt euch Nachhilfe! Drei Klassenarbeiten und fünf Tests in einer Woche sind zu viel – gewöhnt euch dran! …
Leidtragende werden jene sein, denen eigentlich geholfen werden soll. Der Leistungsdruck auf Lernende hat bereits oder wird noch zunehmen – bloß keine wertvolle Unterrichtszeit verlieren. Wer nicht mitkommt, geht verloren, wird krank oder entfremdet sich endgültig von Schule. Dabei wird völlig außer Acht gelassen, was hunderttausende von Schüler:innen in Zeiten des Fern- und Wechselunterrichts geleistet haben: Selbstorganisation, diszipliniertes Arbeiten, Einarbeiten in eine bis dato unbekannte digitale Infrastruktur, … und dies meist unter nicht optimalen Bedingungen.
Und der Lohn? Eine breite Öffentlichkeit teilt das Narrativ der Lernrückstände und heftet dieses Etikett einer ganzen Generation von Schüler:innen an. Was bleibt ist ein dauerhafter Makel, der weitere Benachteiligungen in der Zukunft nicht unwahrscheinlich werden lässt.
Was bleibt zu tun?
Für mich ergeben sich daraus drei Forderungen:
Erstens: Schule ist mehr als nur Lernraum. Worunter viele Kinder und Jugendliche in Zeiten des Lockdowns am meisten gelitten haben, sind die Beschränkungen der sozialen Kontakte. Schule kann jetzt der Raum sein, an dem genau das wieder möglich ist. Hier lassen sich Freundschaften pflegen, Beziehungen stärken und neue Kontakte aufbauen. Geben wir unseren Schüler:innen den Raum, die Zeit und die Mittel dazu, statt Lernstoff zu verdichten!
Zweitens: Schule ist mehr als eine reine Stoffvermittlungsstelle. Es gilt Probleme gemeinsam zu bearbeiten, Konflikte aus verschiedenen Blickwinkeln zu betrachten und gemeinsam Lösungsstrategien zu entwickeln. Selbstbestimmtes (lebenslanges) Lernen und die Entwicklung von (neuen) Kompetenzen in einer Kultur der Digitalität werden einen immer größeren Stellenwert in allen Lebensbereichen erhalten. Wir müssen uns daher ernsthaft mit der Frage auseinandersetzen, wie Lernen ganz grundsätzlich im 21. Jahrhundert gelingen kann!
Drittens: Wir brauchen grundsätzlich einen Perspektivwechsel: Weg von der Suche nach Defiziten, hin zu der Frage, wie wir die Potentiale und Ressourcen von Lernenden stärken können. Das ist auch eine Frage des Respekts gegenüber allen Lernenden!
1 Bundesregierung: Aktionsprogramm Aufholen nach Corona für Kinder und Jugendliche, Niedersächsisches Kultusministerium: Umgang mit coronabedingten Lernrückständen, Hansestadt Hamburg und ZEIT-Stiftung: Lernförderungs-Programm
2 Deutscher Lehrerverband (April2021), ifo-Institut (April 2021), …
3 Süddeutsche Zeitung (März 2021), Westdeutsche Zeitung (Mai 2021), …